Als Führungskraft delegieren können

Vertrauen haben und Unsicherheit akzeptieren

Coaching-Anliegen

Herr W. ist seit drei Jahren Abteilungsleiter mit fünfzehn Mitarbeitern in einem Verlagshaus. Nach einem für ihn ernüchternden Verlauf seines Mitarbeitergesprächs kommt er ins Coaching und möchte das Ergebnis reflektieren. Fazit seiner Beurteilung ist, dass Beschwerden von Mitarbeitern über ihn zunehmen: Sie fühlen sich kontrolliert und sind demotiviert. Herr W. wäre pedantisch und würde Fehler suchen – man könnte es ihm nicht recht machen. Es gab sogar schon Kündigungen. Herr W. möchte nun daran arbeiten, wie er die Stimmung in seiner Abteilung verbessern kann.

Auftragsklärung

In der ersten Coaching-Sitzung möchte Herr W. genau wissen, wie die Vorgehensweise in unserer Arbeit sein wird und mit wie vielen Stunden er für die Bearbeitung seines Themas voraussichtlich rechnen müsste. Er macht einen angespannten Eindruck und wirkt alles in allem überaus korrekt. Er hat einen Schreibblock mitgebracht, worauf er penibel alles Wichtige mitschreibt, was in unserer Arbeit besprochen wird. Auf seine Frage „mit wie vielen Stunden er rechnen müsste“ erwidere ich ihm, dass der Stundenumfang auch von ihm bzw. von seiner persönlichen Entwicklung abhängt. Gleich zu Beginn des Coachings drängt sich der Eindruck auf, dass Herr W. wohl auch unsere Arbeit kontrollieren möchte.

Ich bitte ihn, mir zuerst einmal seinen täglichen Umgang mit Mitarbeitern und seine Wahrnehmung von sich als Führungskraft zu beschreiben. Ob er aufgrund seiner Beurteilung sagen kann, in welchen Situationen er Schwierigkeiten sieht, damit wir einen sinnvollen Fokus für unsere Zusammenarbeit setzen. Herr W. kommt schnell zur Sache und erläutert, wie schwierig es für ihn ist, mit der Arbeitsmoral seiner Mitarbeiter umzugehen. Einige wären schon genau, doch die Mehrzahl ist eher nachlässig und oberflächlich. Die Mitarbeiter würden ihre Arbeit wohl nicht besonders ernst nehmen, weil er immer wieder Mängel aufdeckt. Das Delegieren von Aufgaben fällt ihm daher schwer. Er ist eigentlich ständig in Alarmbereitschaft, damit keine Fehler passieren. Routinearbeiten kann er gut verteilen, jedoch Aufgaben, die Genauigkeit und eine besondere Qualität erfordern und auch für die Geschäftsleitung wesentlich sind, erledigt er besser selbst. Ich frage ihn, warum er sich das antut. Hat er so wenig Vertrauen zu seinen Mitarbeitern? Seine Sicht: Bevor er das Ganze lang und breit erkläre, mache er es besser selbst. Außerdem weiß er dann genau, dass es richtig ist. Er weiß schließlich am besten, wie etwas sein soll und muss sonst sowieso alles nachkontrollieren. 

Sein überaus hoher Anspruch an Perfektion, fehlendes Vertrauen in die Arbeit seiner Mitarbeiter und seine Versuche, mit Kontrolle Sicherheit zu gewinnen, werden deutlich. Ich antworte ihm, wie beschwerlich sein Tun auf mich wirkt und frage ihn, ob er sich vorstellen kann, dass er seine Mitarbeiter durch sein Führungsverhalten quasi entmündigt. Indem er das Autonomiebedürfnis seiner Mitarbeiter missachtet, können diese besonders effektiv demotiviert werden. Das fördert Unsicherheit und Anpassung aufseiten der Mitarbeiter. Entsprechend sinken Motivation, Mut und Leistungsbereitschaft. Herr W. schaut betroffen und sagt, dass er eigentlich immer unter Anspannung ist, weil ihm die Sorge, dass etwas schiefläuft, keine Ruhe lässt. Er fühlt sich erschöpft und hat die Befürchtung, in einen Burnout abzurutschen.

Wir verabreden, daran zu arbeiten, wie Herr W. mehr Vertrauen in sich selbst entwickeln und eine Fähigkeit erlangen kann, seine eigene Unsicherheit zu tolerieren, um so leichter Verantwortung an seine Mitarbeiter abgeben zu können.

Coaching-Verlauf

Zunächst geht es im Coaching darum herauszufinden, wo er selbst zur schlechten Stimmungslage in seiner Abteilung beigetragen haben könnte. Es gilt, eine Bewusstheit dafür zu schaffen, wie er sich vielleicht selbst im Weg steht und wie sich das auf die Arbeit und den Umgang mit seinen Mitarbeitern auswirken kann. Wie schon vermutet hat er nach Auswertung eines Tests zum Thema „Innere Antreiber“ ein hohes Perfektionsstreben (nicht zu verwechseln mit Gewissenhaftigkeit) in zwei Ausprägungen: sein Streben nach Vollkommenheit sowie seine große Angst vor Fehlern. Oft versteckt sich hinter solchen Motiven die Befürchtung vor dem persönlichen Scheitern oder dem Sichtbarwerden einer vermeintlichen oder tatsächlichen Inkompetenz. Bei Herrn W. wird deutlich, dass er sich hohe Standards setzt: Er verfügt über eine herausragende Organisationsfähigkeit, versucht ständig Fehler zu vermeiden und zeigt deshalb oft auch Unentschlossenheit. Das wiederum spiegelt sich in seinem Entscheidungsverhalten als Führungskraft wider und löst Verunsicherung bei seinen Mitarbeitern aus. 

Wir erarbeiten nun gemeinsam, welches persönliche Thema dahinterstecken könnte. Herrn W. wird im Verlauf des Coachings bewusst, wie streng es in seinem Elternhaus zuging und wie wichtig dort Leistung war. Für ihn gab es höchstens mal ein Lob, wenn die Schulnoten sehr gut ausfielen. Wertschätzung wurde ihm also nur in Verbindung mit guter Arbeit entgegengebracht. Seine Eltern haben ihm vermittelt, was im Leben wichtig ist: korrekt sein, Ordnung halten und etwas leisten! Sätze wie „Ordnung ist das halbe Leben“ oder „Ohne Fleiß keinen Preis“ haben ihn geprägt. Oft wurde ihm auch suggeriert, dass seine Leistungen nicht gut genug sind. Ich frage ihn, wie es sich für ihn als Jugendlicher angefühlt hat, dass es nie gereicht hat. Längeres Schweigen. Herr W. ist sichtlich berührt und sagt, dass er sich oft „nicht passend, nicht in Ordnung“ gefühlt und sich bei Schulnoten, die nicht den elterlichen Anforderungen entsprachen, geschämt hat. Wenn er nicht alles „richtig“ gemacht hat, fühlte er sich als Versager.

Ihm wird deutlich, wie seine frühe Prägung ihn auch als Erwachsenen beeinflusst und wie sich das heute auf sein Führungsverhalten auswirkt. Er hat jetzt das dringende Bedürfnis zu lernen, wie er seinen Perfektionismus entkräften und somit mehr Vertrauen in die Arbeit von Mitarbeitern entwickeln kann. Das bedeutet, eine größere Fehlertoleranz zu haben und die Entscheidungskraft zu stärken. Außerdem möchte Herr W. eine ausgewogenere Life Balance erreichen.

Ergebnis

Herrn W. ist bewusst geworden, dass hinter seinem Thema, nicht delegieren zu können, ein persönliches Problem steckt: Er befürchtet, verantwortlich für Fehler gemacht zu werden, als inkompetent zu gelten und letztlich als Führungskraft zu scheitern. Er erkennt, dass seine Mitarbeiter in den letzten Jahren wohl wenig Austausch auf Augenhöhe erlebt haben und versteht besser, wie sie sich gefühlt haben müssen. Seine eigenen Versagensängste hat Herr W. bisher mittels strenger Kontrolle seiner Mitarbeiter bearbeitet. Nun gilt es für ihn, mehr auf sich selbst zu schauen und zu lernen, loszulassen sowie sich seiner Angst vor Niederlagen und seiner damit verbundenen Scham zu stellen. Sein eher dysfunktionales Perfektionsstreben möchte er auf diese Weise in eine gesunde Gewissenhaftigkeit umwandeln.


Ursprünglich wurden Herrn W. fünfzehn Stunden Einzel-Coaching bewilligt, die wir auf zehn Sitzungen à 1,5 Stunden im zweiwöchigen Rhythmus verteilt haben. Nach Abschluss dieses Coaching-Blocks möchte er weiter an seinem Thema arbeiten und kommt nun monatlich zwei Stunden ins Coaching.

Für einen ersten Einblick in meine Arbeitsweise und mein Selbstverständnis als Coach und Beraterin stelle ich Ihnen reale Fälle aus meiner Arbeit vor. Sie sind anonymisiert und mit meinen Klienten abgestimmt.