Menschen reagieren unterschiedlich auf Lob für solide Arbeitsergebnisse oder gemeisterte Hürden. Während die einen sich zufrieden auf die Schultern klopfen, wird es für andere schwierig, denn sie können sich selten erlauben, richtig zufrieden mit sich zu sein. Oft stehen sie sich ausgerechnet mit ihren hohen Ansprüchen selbst im Weg.
Ein Vorgesetzter teilt seinem Mitarbeiter mit, dass seine Präsentation bei der letzten Vertriebstagung „doch ganz in Ordnung“ war. Prompt kann es passieren, dass der Mitarbeiter ins Grübeln kommt: Was bedeutet dieses „ganz in Ordnung“? War alles nur zum Teil okay? Hätte es besser eine Nachtschicht extra gebraucht, damit alles wirklich rundum gelungen geworden wäre? Wahrscheinlich wollte die Führungskraft nur ausdrücken, dass die Präsentation gut war, so wie sie war. Mit dem „ganz in Ordnung“ hat sie jedoch etwas getriggert: den individuellen Anspruch an Perfektion, der manchmal sehr schädliche Züge bekommen kann.
Gemeint ist natürlich nicht eine erworbene handwerkliche Perfektion, die einen Chirurgen oder Goldschmied auszeichnet. Auch nicht die Gründlichkeit, die reale Sicherheit gewährleistet, zum Beispiel im Kernkraftwerk, beim Holzfällen oder bei der Feuerwehr. Es ist der eher überzogene Anspruch, der den Alltag bestimmt. Er bewirkt, dass Menschen, die extrem perfektionistisch sind, nach getaner Arbeit selten echte Zufriedenheit verspüren und sich immer wieder infrage stellen müssen. Sie sind gefrustet, weil das Ergebnis für sie selbst kaum ausreichend war, denn ihr Erwartungskorb hängt stets höher als der des Durchschnitts. Das dysfunktionale Ringen um Makellosigkeit führt zu einer ständigen Überlastung. Wer Vollkommenheit zur absoluten Maxime macht, zahlt unter Umständen einen hohen Preis.
Solche Perfektionisten schaden sich, weil sie permanent danach streben, ihre hohen Erwartungen zu erfüllen oder jedes Mal aufs Neue zu übertreffen. Oft genug kann dies auch zu einem Burnout führen, weil der selbst erzeugte Druck enorm auf ihnen lastet. Es kommt außerdem vor, dass sie ihre Erwartung, wie etwas sein sollte, an ihr persönliches Umfeld weitergeben: Wenn Perfektionisten ihre Ansprüche an Freunde, Kollegen, Partner und Verwandte richten, fühlen diese sich oftmals kritisiert und nicht mehr gleichwertig wahrgenommen – letztlich ziehen sie sich aus der Beziehung zurück. Der Perfektionist wird unsympathisch, weil er überall Mängel entdeckt, an allem und jedem etwas auszusetzen hat und so auch Freude verderben kann.
Wer immer nur hundert Prozent als Ziel hat, will auf keinen Fall scheitern. Entsprechend kann man sich Fehlerhaftigkeiten oder Schwächen kaum eingestehen. Der Wunsch nach Kontrolle in vielen Lebenslagen ist entsprechend hoch, alles muss mehrfach abgesichert sein. Perfektionisten haben oft wenig Mut, andere als die ihnen vertrauten Wege zu gehen und etwas Neues auszuprobieren. Sie kennen nur eine Seite der Medaille, wo Erfolg stets mit viel Aufwand und Mühe verbunden bleibt. Weniger gern setzen sie sich mit der anderen Seite auseinander, wo alles auch einfach mal gut sein darf. Oder wo mutige Entscheidungen mit einem Risiko einhergehen – wo also Scheitern durchaus mit einkalkuliert ist.
Die Psychodynamik dahinter: Nur ein schmaler Grat trennt gesunde Perfektion von krankhaftem Perfektionismus. Überperfektionistische Menschen achten eher auf ihre Schwächen als auf ihre Stärken und haben Angst, Fehler zu machen, meist auch große Prüfungsphobien. Durchschnittliche Ergebnisse haben für sie keinen Wert und sie haben häufiger als andere das Gefühl zu scheitern, weil sie ihre hochgesteckten Ziele seltener erreichen. Ihr Selbstwertgefühl ist stark an Erfolge und Leistungen gebunden und sie werten ihre Persönlichkeit ab, wenn sie Fehler gemacht haben. Perfektionisten wünschen sich Anerkennung und sind sehr auf Fremdbestätigung angewiesen. Erst wenn sie perfekt sind, so glauben sie, erhalten sie die ersehnte Liebe und Wertschätzung.
In unserer Leistungsgesellschaft ist der Drang nach Perfektion durchaus ein akzeptiertes Verhalten, es trägt schließlich das System. Was zählt, ist der erste Platz – ein zweiter oder dritter verblasst. Rückschläge können kaum als Erkenntnisgewinn gewertet werden. Hier ganz bewusst dagegenzuhalten ist allerdings auch nicht einfach, wenn eine Gesellschaft so „tickt“.
Wie schön wäre es doch, Hürden auf dem Weg zum Ziel eher spielerisch zu nehmen und sich auch über durchschnittliche Erfolge zu freuen. Wer sich von seinem Perfektionsanspruch unabhängig machen kann, kann in seinem Leben bestimmt mehr Freude erleben. Wer jedoch andere Menschen oder – anstelle von ihnen – Karriere, Geld und Ansehen braucht, um sich zu definieren, wird in sich immer diese nagende Unzufriedenheit spüren. Eine Unzufriedenheit, die auf Dauer unglücklich machen kann.
Jeder Mensch ist wertvoll – so kommen wir auf die Welt. Hilfreich wäre, einen Weg zu finden, der zu einer tieferen Akzeptanz des Selbst führt, zu einer Selbstliebe im besten Sinn. Gleichzeitig ist es sinnvoll, dass Betroffene ihre Grenzen in Bereichen anerkennen, in denen sie nicht so gut sind, und gerade das fällt Perfektionisten äußerst schwer. Mittels reflexiver Fragen kann man in einem Coaching solchen Themen genauer auf den Grund gehen und gezielt nach Möglichkeiten suchen, wie man sich selbst näherkommen, annehmen und wertschätzen kann.
Es geht nicht darum, fehlerhafter oder gedankenloser zu werden, eher darum, sich bewusst zu machen, dass Fehler machen und Scheitern möglich sein kann und darf. Auch, dass man an seinem Perfektionismus und die damit verbundenen Ansprüchen durchaus scheitern kann.