Es ist ein Grundbedürfnis: Ein Leben lang streben wir danach, Beziehungen einzugehen und wünschen uns ein liebevolles Miteinander. Wir möchten uns geborgen und mit anderen sicher verbunden fühlen, uns als liebenswert und zur Liebe fähig erleben. Manchen Menschen erscheint genau das suspekt. Bei einem Zuviel an Nähe fühlen sie sich bedrängt – und das ist unangenehm für sie.
Der Mensch ist grundsätzlich ein Beziehungswesen. Vom Moment der Geburt an sucht er die Nähe zu seinen Eltern als erste und engste Bezugspersonen. Sie sollen ihm Sicherheit und Stabilität geben und mit ihm emotional verbunden bleiben. Dennoch haben sehr viele Menschen aus unterschiedlichsten Gründen ein Thema damit, anderen wirklich nahe zu sein. Sie scheitern bei der Aufnahme und Pflege von Beziehungen, ob im privaten oder beruflichen Kontext. Oft ziehen sie sich frühzeitig zurück, scheuen Abhängigkeiten von anderen oder kommunizieren nicht gern mit offenem Visier.
Der britische Beziehungsforscher John Bowlby stellte fest, dass die Voraussetzungen für Bindungsangst bereits in früher Kindheit geschaffen werden: in einer prägenden Phase, in der das Kleinkind lernen sollte, dass es seinen Eltern absolut vertrauen kann und bei ihnen geborgen ist. Bowlby sah hier eine Art unsichtbares Band zwischen Eltern und Kind, das für seine weitere Entwicklung von Bedeutung ist. Hat es die Sicherheit und die emotionale Bindung, zeigt es oft auch ein besseres Vermögen, Urvertrauen zu entwickeln. Im späteren Leben gelingt ihm einfacher, Neues zu erkunden, dabei etwas zu riskieren und sich auch ein Scheitern zu erlauben.
Ist dieser Bezug gestört und das Band gerissen, lernt das Kind stattdessen, dass es sich besser nicht zu sehr auf andere Menschen verlassen sollte, um unabhängig durchs Leben zu kommen. Die erwachsene Person wird dazu übergehen, persönlichen Freiraum und Autonomie jeder engeren Beziehung vorzuziehen. Sie meidet Bindungen aus Angst vor Einengung und davor, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Dieses erlernte Verhalten gibt sie in der Elternrolle unbewusst auch an ihre Kinder weiter und erschwert auch ihnen ein erfüllendes Miteinander mit Partnern, Freunden, Mitarbeitern und Kollegen.
Bindungsangst zeigt sich in einem hohen Bedürfnis nach schützender Distanz. Ihre Angst vor Vereinnahmung regulieren diese Menschen, indem sie – je nach Vertrauen in die Situation –auf Abstand gehen und so echte Begegnung vermeiden. Distanz haben zu wollen ist per se allerdings nicht nur negativ zu sehen: Sich selbst genug zu sein und sich dabei wohl, ohne sich allein zu fühlen, ist ein gut gelebtes Distanzbedürfnis. Unser Bedürfnis nach emotionaler Bindung und einem positiven Miteinander lebt von einer ausgewogenen Regulation von Nähe und Distanz. Es gilt, das jeweilige Bedürfnis fortwährend für sich zu regulieren, um Wohlbefinden zu erleben. Wird ein Pol favorisiert, entsteht ein Ungleichgewicht, das Menschen innere Konflikte erleben und sie in Beziehungen oftmals scheitern lässt.
Wer überwiegend auf dem Nähepol verharrt, fühlt sich ohne engste emotionale Bindung zu einem Gegenüber unvollständig, hat oft auch Verlustangst. Um diese Angst abzuwenden, „klammert“ er und überfährt andere mit seinem Nähebedürfnis. Wer wiederum nur auf dem Distanzpol verharrt, hat das Bedürfnis, seiner Umwelt gegenüber auf der Hut zu bleiben und sich vor einem Zuviel an Zuwendung zu schützen. Das führt zu einer permanenten Wachsamkeit, kostet sehr viel Kraft und kann einen Menschen ein Leben lang blockieren. Echtes psychisches Wohlbefinden stellt sich selten ein, da die Angst vor dem Kontrollverlust dominiert.
Auf psychischer Ebene bedeutet Wohlbefinden nicht, immer zufrieden zu sein oder stets gute Gefühle zu haben. Wenn jedoch Menschen für sich eine passende Reaktion auf äußere Situationen und innere Befindlichkeiten finden, kann dieses Wohlbefinden und innere Ruhe entstehen. Das setzt voraus, dass man über sich reflektieren kann: Was genau braucht es, um Nähe zulassen zu können – trotz und mit aller Angst davor, sich vielleicht durch andere drangsaliert oder vereinnahmt zu fühlen?
Wohlbefinden in einem psychischen Kontext zu erreichen bedeutet, dass Menschen unangenehme Gefühle bewusst wahrnehmen und darauf kompetent reagieren können, indem sie in der Lage sind, ihre seelischen Bedürfnisse für sich zu regulieren.