Manche Menschen haben ein allzu fixes Bild davon im Kopf, wie ihr Leben im Idealfall verlaufen soll. Dem Erreichen dieses Ideals ordnen sie alles unter, oft auch mit Folgen für ihr Umfeld. Wenn die Dinge dann doch anders laufen als ausgemalt oder geplant, fühlt sich das wie Totalversagen für sie an. Sprichwörtlich werden sie „aus ihrer Bahn geworfen“.
Ein Ideal ist der Inbegriff von Vollkommenheit, eine „Idee“ von Status, Beziehung, Persönlichkeit, Körperlichkeit oder Gesellschaft in Perfektion. Dazu gehören zum Beispiel Vorstellungen wie das Ideal vom soliden Betongold in bester Großstadtlage, die angestrebte Topfunktion im Sport, die superschlanke Taille, an der man persönlichen Erfolg festmacht, oder auch das harmonische Weihnachtsfest im Kreise der Familie.
Natürlich gibt es erstrebenswerte Ideale wie eine gute Gesundheit, eine intakte Beziehung oder ein liebevolles Elternhaus. Problematisch jedoch sind Ideale in dem Moment, wenn ein Mensch sein Selbstwertgefühl einzig und allein von seinem privaten oder beruflichen Status abhängig macht.
Wenn das Erreichen des Ideals im wahren Leben, dem Alltag, schwierig wird, ist die Unzufriedenheit dann oft riesengroß. Alles erscheint nun wert- und sinnlos bzw. nur noch profan – eben nicht mehr vollkommen. Typische Konfliktmuster im Coaching beruhen auf dem Scheitern solcher Idealvorstellungen:
Hier erfolgt die Enttäuschung, wenn ein Familienmitglied nicht so „performt“, wie es das Ideal der heilen Familie verlangt: Ein Partner hat abweichende Vorstellungen von Familienleben und bricht aus seiner zugedachten Rolle aus. Ein Kind kann gesellschaftlich akzeptable Erfolgsnormen (Schulnoten, Sport, Hobby, Berufswahl) nicht erfüllen, sei es aus Gründen der Gesundheit, der Motivation oder der Intelligenz. Oder es fällt aus dem „Erwartungs“-Rahmen, weil es auf die schiefe Bahn geraten ist oder „falsche Freunde“ gewählt hat. Für denjenigen, der sich dieses Ideal wünscht, ist solch ein Bruch peinlich und mit Scham verbunden. Bis hierher hat sie oder er eine Art „Museumsbild“ von der Vorzeigefamilie aufrechterhalten, das nun ins Wanken gerät.
Manche Menschen haben ihre Idealvorstellung vom perfekten Partner mit einem Super-Mix an Eigenschaften ausgestattet, der im wahren Leben kaum zu bekommen ist. Die Verbitterung ist entsprechend groß, wenn sie ihr Ideal auf einen Menschen projizieren und später feststellen, dass dieser ihren hohen Anspruch gar nicht erfüllen kann. Besonders problematisch ist es, wenn der Partner als „Bedürfnis-Spende-Automat“ ausgebeutet wird – indem er fortwährend Empathie und Wertschätzung zeigen, Nähe geben oder Sicherheit bieten soll. Oft erfolgt der hartnäckige Versuch, den Partner ans Ideal anzugleichen – ihn „umzumodeln“, was natürlich weitere Konflikte mit sich bringt.
Ein weiteres Ideal, das scheitern kann: Jemand sucht ewig den Traumprinzen oder die Traumprinzessin, der oder die ihn wachküssen soll. Hier entsteht der Bruch letztendlich im Eingeständnis, dass man auch mit sich selbst in Einklang kommen und glücklich werden kann, wenn sich kein Partner findet. Man macht sein Glück nicht mehr nur vom Partnerwunsch abhängig, sondern übernimmt die Verantwortung für die Ausgestaltung seines Lebens. Es ist nicht leicht zu lernen, dass man sich selbst genug sein kann und in zwischenmenschlichen Beziehungen glücklich ist, die nicht den Charakter von festen Partnerschaften haben.
In einer Partnerschaft, einer Freundschaft oder auch in einer beruflichen Beziehung kann viel Bitterkeit aufkommen, wenn klar wird, wie viel Lebenszeit und Energie verloren ging, weil man auf Menschen gesetzt hat, die nicht guttun. Vielleicht, weil man falsche Erwartungen an sie hatte oder sich die Verbindung schöngeredet hat. Man hält an einem Bild von vermeintlichen Idealbeziehungen fest, weil man einen Makel befürchtet: den Makel einer Scheidung, der sozialen Ächtung oder des Arbeitsplatzverlustes.
Strebt man nach Idealen, die sich in Äußerlichkeiten niederschlagen, besteht große Gefahr, dass sie unerreichbar bleiben oder ihre Zielverfolgung ins Groteske abdriften kann: So muskelbepackt wie Arnold, so schön wie Heidi, so schmal wie Barbie oder so schnell wie Usain kann eben nicht jeder sein. Die Enttäuschung stellt sich ein, wenn man nach zahlreichen Schönheitsoperationen und Optimierungspillen oder nach endlosem Training immer noch kein glücklicheres Leben führt.
Man macht sein Selbstgefühl vom Ideal abhängig und macht – bis hin zu einem suchtartigen Verhalten – immer weiter in der Hoffnung, dass endlich eine Art von Sättigung, von Zufriedenheit eintritt. Ich-Optimierung wird zum Wahn, weil die innere Leere nicht verschwindet und man immer wieder von ihr eingeholt wird.
Beruflich: Statussymbole wie der Titel auf der Visitenkarte, die hohe Position im Organigramm, ein eigener Firmenparkplatz oder Business-Lounge-Zugang bei Fluggesellschaften sollen der Welt zeigen, dass man es „geschafft“ hat. Mit solchen Symbolen möchten wir unsere „Wichtigkeit“ in der Gesellschaft deutlich machen.
Privat: „Mein Haus, mein Auto, mein Pferd, meine Jacht“ – und auch ein vorzeigbarer Partner sind entsprechende Statussymbole im Privaten, die zusätzlich schmücken und aufwerten sollen.
Der Bruch, die Enttäuschung entsteht, wenn der berufliche Aufstieg nicht klappt und zu einem vermeintlichen Abstieg wird. Wenn der Partner andere Lebensvorstellungen hat und sich selbstverwirklicht. Wenn keine wirkliche Befriedigung eintritt und man dauerhaft für „Nachschub“ von außen fürs Ego sorgen muss, um die innere Leere zu kompensieren. Und weil man vielleicht das Gefühl hat, nicht gut genug zu sein und deshalb Ablenkung und Stimulation von außen wie Freizeitaktivitäten oder Konsumrausch oder die nächste Botox-Behandlung braucht.
Weil Menschen sich oft mit dem identifizieren, was sie haben und können und sich so wichtig und wertvoll – also bedeutsam erleben. Ihr Umgang mit Idealen entscheidet darüber, wie sie sich fühlen.
Wer also ein geringes Selbstwertgefühl hat, macht sein Wohlbefinden von einem Ideal und seiner Erfüllung abhängig. Er muss demonstrieren, wie attraktiv, smart, bedeutend oder wohlhabend er ist – „saugt“ gewissermaßen sein Umfeld aus. Das Dilemma: Er geht sich selbst aus dem Weg und kann seinen Wert nicht spüren. Er fühlt sich verloren und versucht, sein Unglücksgefühl mit glücksverheißenden Äußerlichkeiten zu bearbeiten.
Gegenfrage: Wären Weiterentwicklung und Wachstum ohne sie überhaupt möglich? Hätten Zukunftsforscher keine Idealvorstellungen, würden wir nicht über Themen wie E-Mobilität, Vier-Tage-Woche und Mars-Besiedlung sprechen. Ideale haben einen positiven Zweck, wenn man sie als attraktive Entwicklungen übersetzt. Sie können ein Ansporn sein, sich in eine positive Richtung zu entwickeln. Dennoch lohnt es sich, diese immer wieder kritisch zu hinterfragen: Welchen Stellenwert haben sie? Was muss ich damit vielleicht kompensieren? Sind sie wirklich so ideal, wie ich meine?
Ein gutes Selbstwertgefühl beinhaltet eine positive Bewertung und Annahme seines Selbsts. Es schließt ein, sich zu erlauben, dass man einen Kurs auch mal korrigiert, Umwege in Kauf nimmt oder sich von einem zu hoch gesteckten Ziel verabschiedet. So kann man sich von Äußerlichkeiten, von Erwartungen oder vom Verhalten anderer unabhängiger machen.
Bildquelle: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ von Markus Kienappel | Equapio.com